1. Fallbeispiel Fanny

Fallbeispiel Fanny – direktes Mobbing & Mobbing in sozialen Netzwerken
Fanny ist 13 Jahre alt und geht in die 3. Klasse einer allgemeinbildenden höheren Schule (AHS).
Fanny ist ein sehr sensibles Mädchen und hat sich immer um schwächere Schülerinnen/Schüler und Außenseiterinnen/Außenseiter gekümmert. Sie ist eine gute Schülerin und mit Anna seit der ersten Klasse befreundet. Die beiden Mädchen haben zusammen viel unternommen, aber jetzt hat Anna Fanny verraten. Anna ist verliebt in einen Klassenkameraden, Benjamin, und verbringt viel Zeit mit ihm. Er hat eine WhatsApp-Gruppe gegründet und alle, die ihn nicht cool finden, davon ausgeschlossen. Fanny findet ihn nicht cool. Benjamin hat das Sagen in der Klasse und ist sehr beliebt. Durch den sozialen Druck, den er ausübt, wenden sich viele der Klassenkolleginnen und Klassenkollegen von Fanny ab.
Fanny wird immer wieder in dieser WhatsApp-Gruppe beschimpft, und es werden Unwahrheiten über sie und ihre Familie verbreitet. Es gibt zwei Mitschüler, die mit Fanny noch Kontakt haben und ihr von der WhatsApp-Gruppe berichtet haben. In der Klasse wird Fanny von Benjamin mit Kreide beschossen, ihre Schulsachen werden versteckt und teilweise zerstört, ihre Jacke in den Mistkübel geworfen. Sie bekommt Zettel zugesteckt, worauf steht „Du hast hier keine Freunde“ oder der Mobber ruft durch die Klasse „Du Schlampe“. Benjamin genießt die Aufmerksamkeit, die er in der Klasse bekommt, wenn er auf Fanny losgeht. Einige bejubeln und bestärken ihn.
Fanny ist schon seit einiger Zeit sehr verzweifelt, ihre Schulleistungen gehen zurück und sie hat Angst vor dem nächsten Schultag, denn sie weiß nicht, was sie wieder erwarten wird. Sie quält sich mit dem Gedanken, etwas falsch gemacht zu haben. Ihre Eltern haben Kontakt mit dem Klassenvorstand aufgenommen.
Erste Hilfe für die betroffene Schülerin Fanny: Gewaltsituationen (sowohl psychisch als auch physisch), die beobachtet werden, werden sofort unterbrochen. Es wird eingeschritten. Die Lehrkräfte beziehen klar Standpunkt gegen Gewalt (Null-Toleranz) und zeigen Grenzen auf („Schluss damit“, „Stopp!“). Lehrpersonen haben Verantwortung und Vorbildwirkung.
Leitfrage 1: „Welche Mobbingform und welches Mobbingmotiv lassen sich erkennen?“
Folgende Mobbingkriterien sind erfüllt:
- Schädigungsabsicht: Benjamin (Täter) setzt wiederholt verletzende Handlungen gegenüber Fanny, z. B. Ausschluss aus der WhatsApp-Gruppe, Verstecken oder Wegwerfen ihrer Schulsachen, Beschimpfungen gegen Fanny
- Machtungleichgewicht: Benjamin (Täter) ist beliebt und cool, eventuell auch körperlich überlegen. Einige Mitschülerinnen und Mitschüler bestärken sein Verhalten. Fanny fühlt sich einsam und machtlos.
- Wiederholungsaspekt: Fanny leidet schon seit einiger Zeit unter diesen Umständen. Immer wieder wird sie in der WhatsApp-Gruppe beschimpft, ihre Sachen versteckt, mit Kreide beworfen …
- Hilflosigkeit: Fanny ist verzweifelt, hat Angst und fühlt sich ausgeliefert.
Benjamin agiert, um seinen Status innerhalb der Klasse zu erhöhen. Er genießt die Aufmerksamkeit, die er von den anderen Mitschülerinnen und Mitschülern bekommt. Durch sein Verhalten bekommt er mehr Macht innerhalb der Klassengemeinschaft. Alle, die ihn nicht cool finden, werden ausgeschlossen.
Die Erfahrungen und Beobachtungen, die im Teamgespräch gesammelt werden, können helfen, mögliche weitere Motive des Mobbers und der anderen beteiligten Schülerinnen und Schüler zu klären.
- Physisches Mobbing: Beschädigung und Verstecken von Gegenständen, Kreide nachwerfen
- Verbales Mobbing: Beschimpfungen
- Cybermobbing: Ausschluss aus der WhatsApp-Gruppe, Verbreitung von Gerüchten und privaten Daten mit der Absicht, Fanny bloßzustellen.
Leitfrage 2: „Gibt es gesetzliche Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen? Allfällige strafrechtliche Folgen?“
Im Rahmen der Aufsichtspflicht nach § 51 Abs. 3 SchUG obliegt es dem Lehrer/der Lehrerin, auf die körperliche Sicherheit und auf die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler zu achten. Die Intensität der Aufsicht wird sich dabei nach dem Alter und der geistigen Reife der Schülerinnen und Schüler richten (s. hierzu auch RS Nr. 15/2005 „Aufsichtserlass“).
Der in § 2 SchOG verankerte schulische Erziehungsauftrag ergänzt jenen der Eltern. Es ist das grundsätzliche Recht von Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Dieses Recht, das natürlich auch eine Verpflichtung bedeutet, darf der Staat nicht einfach an sich ziehen. Das bringt auch § 47 SchUG zum Ausdruck, der ausdrücklich mit „Mitwirkung der Schule an der Erziehung“ überschrieben ist.
Das Schulrecht basiert dabei auf dem Grundsatz des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens zwischen Schule und Elternhaus (§ 2 SchUG). Aufeinander abgestimmtes Handeln setzt allerdings wechselseitige Information über erziehungsrelevante Vorkommnisse voraus. §48 SchUG verlangt deshalb von den Organen der Schule – und hierbei insbesonders vom Klassenvorstand bzw. dem Schulleiter/der Schulleiterin – die Kontaktaufnahme mit den Eltern, wann immer es die Erziehungssituation eines Kindes erfordert. In Fällen, in denen die Eltern ihren Pflichten beharrlich nicht nachkommen oder eine Einigkeit hinsichtlich der weiteren Vorgehensweise nicht zu erzielen ist, sieht § 48 (Verständigungspflichten der Schule) als Ultima-Ratio-Maßnahme eine Verständigung der zuständigen Kinder- und Jugendhilfe durch die Schulleitung vor.
Wird seitens der Eltern dem Kind ein bestimmter Gegenstand (im konkreten Fall das Handy mit Zugang zum Internet und somit zu WhatsApp) zur Verfügung gestellt, so ist das Kind erzieherisch dazu anzuhalten, wie es damit sicher umzugehen hat. Auch ist im Rahmen der elterlichen Obsorge zu prüfen, inwieweit sich das Kind damit wohlverhält.
Im konkreten Beispiel findet die Gewaltsituation auch im außerschulischen Bereich statt. Mobbing, das im privaten Bereich stattfindet, aber in die Schule hineinwirkt, kann schulische Auswirkungen haben. Gemäß der einschlägigen Regelung des § 47 Abs. 4 SchUG kann das Verhalten einer Schülerin bzw. eines Schülers außerhalb der Schule im Rahmen von Erziehungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Es dürfen hierbei nur Maßnahmen gemäß § 47 Abs. 1 und § 48 SchUG gesetzt werden. § 47 SchUG zufolge hat die Lehrkraft in ihrer Unterrichts- und Erziehungsarbeit die der Erziehungssituation angemessenen persönlichkeits- und gemeinschaftsbildenden Erziehungsmittel anzuwenden. Das bedeutet im Zusammenhang mit Mobbing eine Aufforderung oder Zurechtweisung das negative Verhalten zu stoppen (§ 47 Abs.1) und eine Aufklärung über all- fällige schulrechtliche Folgen, die bis zum Ausschluss der Schülerin / des Schülers führen können (§ 49 Abs.1), aber auch über allfällige strafrechtliche Folgen.
Hinweis § 47 (2) sieht zwar auch die Möglichkeit der Versetzung in Parallelklassen bzw. einen anderen Lehrgang als Erziehungsmaßnahme vor. Bei Mobbing wird aber eine Versetzung nicht empfohlen, weil sich die Rollen dadurch im Mobbingprozess in der Regel nicht verändern (siehe Kapitel 1). |
Mit Mobbing in Zusammenhang stehendes Verhalten von Schülerinnen und Schülern kann auch strafrechtliche Relevanz entfalten. Das Zerstören von Schulsachen könnte den Tatbestand der Sachbeschädigung (§ 125 StGB), Postings in sozialen Netzwerken oder Foren den Tatbestand der Beleidigung (§ 115 StGB), der Üblen Nachrede (§ 111 StGB) oder der Verleumdung (§ 297 StGB) erfüllen (sog. Ehrenbeleidigungsdelikte).
Eine entsprechende Beurteilung obliegt dabei den Behörden der Strafverfolgung sowie den ordentlichen Gerichten. Erhebt sich ein entsprechender Verdacht, ist die Schulleitung grundsätzlich zur Anzeige an die Kriminalpolizei bzw. die Staatsanwaltschaft verpflichtet (vgl. § 78 StPO).
Leitfrage 3: „Welche Überlegungen / Entscheidungen sind bezüglich der weiteren Vorgehensweise sinnvoll?“
Die Entscheidungen bezüglich weiterer Maßnahmen sollten zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vorbereitet werden. Folgende Überlegungen sind im vorliegenden Fall sinnvoll:
- Wer kann eine vertrauensvolle Ansprechperson für Fanny sein?
- Wer spricht mit den betroffenen Schülerinnen und Schüler?
- Wer kontaktiert die Eltern?
- Ist genügend fachliche Expertise im Team oder sollte weitere (externe) Unterstützung beigezogen werden?
- Welche Interventionsmethode ist sinnvoll?
- Ist eine psychosoziale Einzelbetreuung für Fanny durch z.B. die Schulpsychologie, Schulsozialarbeit notwendig?
- Ist eine psychosoziale Einzelbetreuung für Benjamin (Mobber) hilfreich?
Hinweis Allfällig notwendige weiterführende Einzelbetreuung von Täter und Opfer sollten nicht von derselben Person übernommen werden. |
- Gespräch mit der betroffenen Schülerin: Für weitere Maßnahmen betreffend die Beendigung des Mobbings sollten das Einvernehmen der Schülerin (Fanny) eingeholt und die Schritte besprochen werden. Wichtig ist auch, Fanny zu motivieren neuerliche Übergriffe sofort zu melden. Sie soll unterstützt werden, sich auch in schwierigen Situationen selbst als handlungsfähig zu erleben.
- Gespräch mit dem Täter: Klarstellen, dass Mobbing an der Schule nicht geduldet wird. Benjamin für sein Verhalten nicht bestrafen, sondern klare Grenzen setzen sowie Möglichkeiten schaffen ihn dabei zu unterstützen seine Verhaltensweise zu ändern.
In diesem Fall werden Methoden empfohlen, die zur Stärkung des Opfers und zur Verhaltensveränderung der Täterin / des Täters beitragen sowie zu einer nachhaltigen Verbesserung der sozialen Kompetenzen innerhalb der Klasse führen.
Empfohlene Anti-Mobbing-Methoden
Farsta-Methode:
Die Farsta-Methode ist ein konfrontatives Interventionsprogramm. Ziel dieser Methode ist es, eine klare Botschaft zu geben, dass Mobbing an der Schule nicht geduldet wird. Bei diesem Programm wird die Täterin / der Täter mit ihrer / seiner Tat unmittelbar konfrontiert. Dabei wird auf jegliche Schuldzuweisung und auf Sanktionen verzichtet. Es sollten vielmehr die negativen Handlungen reflektiert und sozialverträgliche Verhaltensweisen eingeübt werden (Jannan, 2011).
Shared-Concern-Methode:
Die Shared-Concern-Methode (Methode der geteilten Sorge) ist ein lösungsorientierter Ansatz, dessen Ziel der Aufbau positiver sozialer Verhaltensweisen ist, um Mobbing zu stoppen (z. B. durch Aufhebung des Machtungleichgewichtes, Stärkung des Ver- antwortungsgefühls usw.) Bei dieser Methode geht man davon aus, dass junge Menschen ihr Verhalten ändern können, wenn sich die Dynamik in der Gruppe ändert (Griffith & Weatherilt, 2011).
Was passiert danach?
Nachhaltigkeit der gesetzten Maßnahmen durch Gespräche mit den Beteiligten überprüfen und zur Unterstützung das Online Selbstevaluationstool (AVEO) einsetzen. Langfristig eine gewaltfreie Schulkultur etablieren. Alternativstrategien überlegen, wenn keine erwünschten Erfolge sichtbar sind.
- Nur Gespräche mit dem betroffenen Mädchen führen!
- Fanny aus dem Unterricht herausholen, um Gespräche zu führen!
- Mit Benjamin und Fanny gemeinsam über das Problem reden!
- Den konkreten Fall z.B. im Rahmen eines Elternabends diskutieren!
- Mit Strafen drohen oder den Täter / die Täterin bestrafen!
- Mit den Eltern der Beteiligten (Täter / Täterin und Opfer) gemeinsam den Fall besprechen!
- Den betroffenen Personen keine Unterstützung zur Seite stellen!
- Nach kurzfristiger Besserung der Situation die Nachhaltigkeit nicht sichern!
- Sich für nicht-zuständig erklären und daher nicht agieren, da der Fall in der Freizeit der Schülerinnen und Schüler passiert.