2. Formen von Gewalt

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Formen von Gewalt

Gewalt nimmt sehr unterschiedliche Formen an. In Anlehnung an die Definition der WHO umfasst sie Drohungen und Verhaltensweisen mit der Absicht oder Inkaufnahme, zu schädigen, und sie richtet sich gegen Personen (andere oder sich selbst) oder Objekte.

Gewalt erfolgt meist durch körperlichen Einsatz und/oder psychische und verbale oder digitale Mittel und verursacht körperliche und/oder psychische Verletzungen. Die unterschiedlichen Gewaltformen treten selten isoliert, sondern oft in Kombination auf. Beispielsweise ist körperliche oder sexuelle Gewalt immer auch mit psychischer Gewalt verbunden.

Übergriffe und Gewalt kommen in verschiedenen Verhältnissen zwischen Betroffenen und Ausübenden vor (dabei ist es im Hinblick auf die Auswirkungen auf Betroffene unerheblich, ob die Gewalt ausübende Person bewusst oder ungewollt handelt):

  • an Kindern durch Erwachsene (Eltern, Familienangehörige, Vertrauenspersonen, Freizeitpersonal, pädagogische Fachkräfte usw.),
  • unter Kindern/Jugendlichen oder
  • an Erwachsenen durch Jugendliche/Kinder (im Schulsetting z. B., wenn pädagogische Fachkräfte von Schülerinnen und Schülern angegriffen oder über soziale Medien abgewertet werden). 

In dieser Broschüre liegt der Fokus auf Schülerinnen und Schülern als Betroffene. Auch wenn Gewalt in den meisten Fällen im häuslichen oder Freizeitkontext und nicht direkt am Standort Schule passiert, ist es wichtig, dass Pädagoginnen und Pädagogen für dieses Thema sensibilisiert werden, weil die Auswirkungen im schulischen Kontext deutlich werden.

Gewalt entsteht nicht aus dem Nichts, sondern stufenweise, beginnend mit Grenzverletzungen und Übergriffen bis hin zu strafrechtlich relevanter Gewalt (Enders, 2011).

Grenzverletzungen als Vorstufe von Gewalt sind Verhaltensweisen, durch die unabsichtlich oder aus Versehen in Folge fachlicher oder persönlicher Defizite die persönlichen Grenzen anderer verbal, nonverbal oder körperlich überschritten werden. In manchen Organisationen herrscht eine „Kultur der Grenzverletzungen“, in der Grenzüberschreitungen Teil des Alltags sind und nicht als solche wahrgenommen werden. Durch die Etablierung einer Atmosphäre der Achtsamkeit und des Respekts sollte auf Grenzverletzungen rasch und unmittelbar korrigierend reagiert werden.

Beispiele: abwertende Bemerkungen werden toleriert; Lehrerin/Lehrer reagiert nicht, wenn Kind (versehentlich) Busen/Penis berührt; grenzwertiges Gerangel („Fettberg“); „flirtendes“ Verhalten; sexuell offensive Kleidung von Betreuungspersonen; Missachtung des Rechts auf Intimsphäre/am eigenen Bild…

Als Übergriffe werden massive und häufige Grenzverletzungen bezeichnet, die nicht zufällig, sondern bewusst, gezielt und geplant die eigenen Interessen oder Bedürfnisse (nach Macht, sexueller Befriedigung, Bevorzugung usw.) auf Kosten anderer verfolgen. Übergriffigem Verhalten liegen meist eine nicht auf die Bedürfnisse des Kindes fokussierte Haltung, pädagogisches Unvermögen und fehlendes Bewusstsein über die Auswirkungen zugrunde. Übergriffe machen den Schutz der Betroffenen und klare Konsequenzen notwendig (z. B. Verweis auf Schulordnung oder Kinderschutzrichtlinie; dienst- und arbeitsrechtliche Klärung).

Beispiele: sexualisierte Äußerungen oder Gesten; unbesprochenes Tolerieren von Stoßen oder Erpressungen; intime körperliche Nähe; sexuell getönte Zärtlichkeiten seitens Autoritätspersonen; Nicht-Beenden von Mobbing; Abwertungen und Demütigungen oder psychisches Unter-Drucksetzen…

Unter strafrechtlich relevanter Gewalt werden Taten wie Belästigung, Nötigung, Quälen, Körperverletzung, (schwerer) sexueller Missbrauch, schwere Vernachlässigung, Vergewaltigung, Kinderprostitution, Stalking, gefährliche Drohung, Verschicken von Nacktfotos oder Videos oder Kinderpornografie verstanden. Zum Schutz der Betroffenen ist es vorrangig, den geltenden Melde- und Anzeigepflichten nachzukommen.

Körperliche (physische) Gewalt umfasst alle schweren und leichten Formen von Misshandlungen, die sich gegen den Körper richten:

  • Schlagen (auch Ohrfeigen und Klapse) und Schütteln
  • Stoßen, Treten, Zwicken, Prügeln (mit Fäusten oder Gegenständen) und Boxen,
  • gewaltsames Festhalten,
  • Bewerfen mit Gegenständen,
  • An-den-Haaren-Ziehen,
  • Gegen-die-Wand-Schlagen,
  • Verbrennen (mit Zigaretten, mit heißem Wasser),
  • Attacken mit Waffen usw. bis hin zu Mordversuch oder Mord.

Äußerlich wahrnehmbare Zeichen körperlicher Gewalt gibt es meist nur nach schweren körperlichen Misshandlungen (Brüche, Verbrennungen, Schnitte, Stiche, Quetschungen, innere Blutungen). Die Mehrzahl körperlicher Gewalthandlungen hinterlässt jedoch keine oder nur geringe bzw. schwer oder nur kurze Zeit erkennbare Spuren. Zudem verharmlosen Täterinnen bzw. Täter und oft auch die betroffenen Kinder die Verletzungen meist und/oder verschweigen die wahren Gründe. Umso bedeutsamer ist es, körperliche Anzeichen von Gewalthandlungen, dazu zählen auch Selbstverletzungen, wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Eine subtile Sonderform körperlicher Gewaltanwendung ist das sogenannte Münchhausen-Stellvertretersyndrom (auch MSBP, Münchhausen Syndrome by proxy), bei dem es sich um eine durch die Bezugsperson (meist Mutter) vorgetäuschte bzw. künstlich herbeigeführte Erkrankung des Kindes durch Erfinden, Übersteigern oder tatsächliches Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen handelt, um anschließend medizinische Behandlung und damit verbundene Aufmerksamkeit zu erlangen und Privilegien zu erreichen.

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten:

Körperverletzung (§ 83), schwere Körperverletzung (§ 84), Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen (§ 92), fortgesetzte Gewaltausübung (§ 107b) bis hin zu (versuchtem) Mord (§ 75)

Seelische (psychische) Gewalt umfasst alle auf Integrität, Selbstwert und Würde der Person abzielenden Gewaltformen, z.B.:

  • Abwertung und Demütigungen,
  • Beschimpfen,
  • permanente Kritik und Terrorisieren,
  • bewusstes Reizen,
  • Ausnutzen der Kinder (als Partnerersatz),
  • Missachtung,
  • Nichteinhalten von Abmachungen,
  • sadistische Erziehungs- und Unterrichtsformen,
  • Spott, Ironie und Sarkasmus,
  • absichtliches Ignorieren und Anschweigen.

Oft wird psychische Gewalt mit verbalen Mitteln ausgeübt, aber auch Ausgrenzung, nonverbale Abwertungen (z.B. Gesten und Handlungen der Verachtung) und die systematische Störung der persönlichen Integrität (Stalking, Verleumdung, wiederholtes Abwerten und Bloßstellen im Unterricht usw.) gehören dazu. Dabei geht es insbesondere um wiederholte Verhaltensweisen der Gewalt ausübenden Personen, die dazu führen, dass das Kind sich wertlos, ungeliebt, bedroht usw. fühlt. 

Die Zeugenschaft anderer Gewaltformen kann ebenfalls psychische Gewalt bedeuten – beispielsweise das Ansehen eines Terroraktes oder wenn körperliche Gewalt an Sachen (z. B. die Zerstörung von Dingen, die für Betroffene einen besonderen Wert haben) oder an (Haus-)Tieren ausgeübt wird.

Auf emotionaler Ebene ausgeübte Gewalt ist schwerer zu identifizieren als körperliche Misshandlungen und wird daher seltener als Gewalt benannt und wahrgenommen. Für die Beurteilung psychischer Gewalt sind die Häufigkeit und die Dauer ausschlaggebend. Folgen psychischer Gewalt sind oft nur mit psychologischer Hilfe heilbar.

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten:

Freiheitsentziehung (§ 99), Nötigung (§ 105), Gefährliche Drohung (§ 107), Beharrliche Verfolgung – „Stalking“ (§ 107a), Üble Nachrede (§ 111), Beleidigung (§ 115), Erpressung (§ 144), Verleumdung (§ 297)

Der Begriff »sexualisierte Gewalt« gegen Kinder und Jugendliche ist nur einer von vielen; in der Literatur wird auch von sexueller Gewalt, sexuellem Missbrauch, sexuellen Übergriffen, sexueller Ausbeutung, sexueller Misshandlung und Inzest gesprochen.

Sexualisierte Gewalt bezeichnet das Ausnützen der Macht- und Autoritätsposition sowie des Abhängigkeitsverhältnisses einer/eines Erwachsenen oder überlegenen Jugendlichen gegenüber Kindern oder Jugendlichen sowie das bewusste, manipulative und absichtliche Missbrauchen eines/einer Heranwachsenden zur Befriedigung der eigenen sexuellen, emotionalen und sozialen Bedürfnisse. Betroffene Minderjährige können die Handlungen oft nicht angemessen verstehen und einordnen, geschweige denn, sich gegen die Übergriffe wehren. Zu sexualisierter Gewalt zählen alle versuchten oder vollendeten sexuellen Akte, aber auch sexuelle Handlungen ohne direkten Körperkontakt. Demnach geht es um verschiedene verbale bzw. psychisch und körperliche übergriffige Handlungen, z. B.:

  • sexualisierte Witze und Anspielungen sowie sexuell gefärbte Sprache,
  • obszönes Ausfragen,
  • Zwang zum Konsum pornografischer Medien,
  • Genitalverstümmelung,
  • Zwangsverheiratung,
  • Exhibitionismus (Zeigen der eigenen Geschlechtsorgane),
  • Anfertigung pornografischer Fotos/Filme von Kindern/Jugendlichen,
  • Erzwingen sexueller Handlungen am eigenen oder am Körper des Kindes/Jugendlichen,
  • Zwang zur Prostitution,
  • Vergewaltigung und wiederholter schwerer sexueller Missbrauch.

Mädchen und Buben erfahren überwiegend von Erwachsenen (größtenteils Männern) aus ihrem engeren Familien- und Bekanntenkreis (Eltern, Großeltern, Onkel, Nachbarin…) ausgeübte sexuelle Gewalt. Sexueller Missbrauch durch Fremde kommt im Verhältnis sehr selten vor. Meist gehen der Ausübung sexualisierter Gewalt längere Anbahnungsphasen voran, in denen das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen erworben und dann zur Befriedigung eigener sexueller Interessen missbraucht wird. Auch ein "Hofieren" des Kindes (Kind wird gegenüber anderen bevorzugt) kann vorkommen. Sexueller Missbrauch kann über Wochen, Monate und Jahre andauern. Viele Täterinnen und Täter werden bereits im Jugendalter übergriffig, weshalb frühes Eingreifen seitens der Lehrkraft erforderlich ist. Es ist entscheidend, sexuell übergriffiges Verhalten sofort zu beenden und das Erlernen alternativer Verhaltensweisen anzustoßen.

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten:

Vergewaltigung (§ 201), Geschlechtliche Nötigung (§ 202), Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (§ 205), Schwerer sexueller Missbrauch von Unmündigen (§ 206), Sexueller Missbrauch von Unmündigen (§ 207), Pornographische Darstellungen Minderjähriger (§ 207a), Blutschande (§ 211), Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses (§ 212), Sexuelle Belästigung und öffentliche geschlechtliche Handlungen (§ 218)

Sexuell motivierte Übergriffe bedeuten immer auch psychische Gewalt und Machtmissbrauch. Weiters wird sexualisierte Gewalt oft über das Internet und digitale Medien ausgeübt. Viele der im nächsten Abschnitt beschriebenen Phänomene stellen nicht nur eine mediale, sondern auch eine sexualisierte Form der Gewalt dar.

Die Kommunikation im digitalen Raum (über das Internet/Smartphone und Medien wie Facebook, WhatsApp, TikTok, Instagram usw.) ist im Alltag von Kindern und Jugendlichen eine Selbstverständlichkeit – damit sind auch sexueller Missbrauch und Gewalt auf diesem Weg möglich. Es gibt Täterinnen und Täter, die in Chaträumen sowie sozialen Netzwerken und über internettaugliche Spielforen Kontakt zu Kindern als potenzielle Opfer aufnehmen. Viel Informationsbedarf besteht auch bei Kindern und vor allem Jugendlichen selbst, denen die Strafbarkeit digitaler Gewaltformen wie z.B. das Weiterleiten von einvernehmlich hergestellten sexuellen Aufnahmen an Dritte kaum bewusst ist. Zu den Erscheinungsformen medial vermittelter Gewalt gehören:

  • Cyber-Stalking,
  • Cyber-Mobbing,
  • Cyber-Grooming (Anbahnung sexuellen Missbrauchs über das Internet), digital penetration
  • Hasspostings
  • Happy Slapping (Filmen und Veröffentlichen eines gewalttätigen Angriffs),
  • Heimliche Anfertigung von intimen Fotos/Filmen, Upskirting
  • Sexting (digitales Versenden intimer Aufnahmen).

Der Zugang zu gewalttätigen und sexistischen wie pornografischen Darstellungen wird immer einfacher und Kinder werden sowohl als Opfer (Kinderpornografie) als auch als Kundinnen und Kunden (Happy Slapping) missbraucht. Sexualisierte Gewalt in sozialen Medien, aber auch über Chats, Videodienste und andere Plattformen wird als „digital penetration“ bezeichnet.

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten:

Fortdauernde Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems – Cybermobbing (§ 107c), Üble Nachrede – Hasspostings (§ 111), unbefugte Bildaufnahmen, insbesondere „Upskirting“ (§ 120a), Pornographische Darstellungen Minderjähriger (§ 207a), Anbahnung von Sexualkontakten zu Unmündigen (§ 208a), Verhetzung – Hasspostings (§ 283)

Vernachlässigung beinhaltet die mangelhafte Versorgung, die Nicht-Betreuung und das Vergessen wie das Vorenthalten von Unterstützung und Pflege. Sie ist die weitaus häufigste Form der Kindeswohlgefährdung. Vernachlässigung hat körperliche und psychische Komponenten:

körperlich:

  • keine ausreichende Ernährung und/oder Flüssigkeitszufuhr,
  • Körperpflege und
  • medizinische Hilfe/Fürsorge sowie
  • gesundheitsbedrohende hygienische Wohnverhältnisse,
  • kein ausreichender Schutz inner- und außerhalb des Wohnraums (z.B. einfacher Zugang zu gefährlichen Maschinen/Gegenständen)

psychisch/emotional:

  • keine altersentsprechende Beaufsichtigung,
  • Einschränkung der Autonomie und Selbstbestimmung des Kindes (z.B. unangemessene Kontrolle in der Entwicklung),
  • Erzieherische Vernachlässigung (z.B. Verhinderung von Schulbildung),
  • mangelnde Förderung und Unterstützung der motorischen geistigten, emotionalen und/oder sozialen Entwicklung

Auch mangelnde emotionale Zuwendung und die Ignoranz kindlicher Bedürfnisse nach Nähe und interaktivem Kontakt sowie fehlende Feinfühligkeit und Aufmerksamkeit im Umgang mit Kindern können psychische Vernachlässigung - trotz materieller Bestversorgung - bedeuten. Eine Form der psychischen Vernachlässigung im Rahmen der Kindererziehung besteht darin, Kinder nicht altersgemäß, unkontrolliert oder zu häufig und zu lange dem Medienkonsum auszusetzen, insbesondere dem Konsum altersinadäquater, gewalttätiger und pornografischer Medieninhalte (gewalttätige Computerspiele oder Filme usw.). Vernachlässigung betrifft auch unzureichende Reaktionen auf digitale und psychische Gewalt (z. B. Cyber-Mobbing oder Sexting).

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten:

Vereitelung behördlich angeordneter Erziehungsmaßnahmen (§ 196), Vernachlässigung der Pflege, Erziehung oder Beaufsichtigung (§ 199)

Das Miterleben-Müssen von Gewalt ist für Kinder und Jugendliche eine große Belastung und führt meist zu einem Verlust der sozialen Sicherheit. Fast immer ist mit miterlebter Gewalt die Zeugenschaft häuslicher Gewalt gemeint, doch auch das Miterleben von Gewalt unter Gleichaltrigen (die oft auch direkt an Schulen stattfindet oder in Form von Bandengewalt) kann für Heranwachsende psychisch sehr belastend sein.

Unter häuslicher Gewalt werden alle beschriebenen Gewaltformen im sozialen Nahraum (zwischen Personen, die in einem Haushalt leben) verstanden. Konflikte inkludieren häufig das Hinterfragen der Eindeutigkeit einer Täter-Opfer-Konstellation, manchmal auch verbunden mit gegenseitigen psychischen Krankheitszuschreibungen. Gewaltdynamiken können dabei unterschiedliche Formen annehmen. Partnergewalt und Eltern-Kind-Gewalt kommen wesentlich häufiger vor als Geschwistergewalt und Kinder-Elterngewalt. Gewalt und Demütigung werden von einer Person eingesetzt, um die andere(n) zu kontrollieren und Macht auszuüben.

In 70 % der Fälle (Tätigkeitsbericht der AÖF, 2012), in denen die Mutter seitens des Partners oder eines nahen männlichen Angehörigen Gewalt erfährt, sind die Kinder in der Wohnung anwesend. Aber selbst, wenn Kinder die Gewalt an einem Elternteil nicht als direkte Augenzeuginnen und -zeugen miterleben, spüren sie die Bedrohung, die Angst und die Hilflosigkeit der wichtigen Bezugsperson atmosphärisch, was ihr Wohlergehen beeinträchtigt. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Zeugenschaft von (häuslicher) Gewalt genauso gravierende Auswirkungen hat, wie selbst erfahrene Gewalt. Für Kinder besonders belastend sind:

  • Gewalt an Bezugsperson/en oder Freundinnen und Freunden mitansehen und -hören müssen,
  • Aufwachsen in gewaltbereiter Atmosphäre,
  • Angst um die psychische und physische Unversehrtheit einer Bezugsperson oder einer Freundin/eines Freundes,
  • Angst vor dem Heimkommen oder vor dem Schulbesuch,
  • eingeschränkte Ausweichmöglichkeiten,
  • Gefühle von Wut und gleichzeitiger Ohnmacht (weil nicht in das Geschehen eingegriffen werden kann),
  • Verinnerlichung von Täter- und Opferrollen.

Seit einer Änderung des StGB (Artikel 1) und der Strafprozessordnung 1975 (Artikel 3) im Jahr 2020 gelten Kinder, die Zeugen von häuslicher Gewalt wurden, durch die Neustrukturierung und Ausweitung der Prozessbegleitung (§§ 65, 66b Prozessbegleitung) in Österreich als Opfer von (psychischer) Gewalt. Somit hat nun auch die Zeugenschaft (minderjähriger Personen) von Gewalt strafrechtliche Relevanz.

Ökonomische oder auch finanzielle Gewalt kann das Kind direkt betreffen, z. B.:

  • Taschengeld oder Ersparnisse des Kindes wegnehmen
  • Verkauf von Dingen, die dem Kind gehören
  • Vorenthalten oder Verzögern von Alimentationszahlungen
  • dem Alter des Kindes nicht entsprechendes Begrenzen, wie viel Geld ausgegeben werden darf
  • Verbieten eines eigenen Kontos

Meist ist im Kontext ökonomischer Gewalt jedoch eine Form miterlebter Gewalt bzw. Partnergewalt gemeint. Auf der individuellen Ebene geht es um Verhaltensweisen wie z. B. die finanzielle Kontrolle des anderen Elternteiles; (auf Kosten des anderen bzw. der Familie) Schulden machen; dem anderen Elternteil verbieten, selbst Geld zu verdienen, oder keinen bzw. zu wenig Unterhalt zu zahlen. Dadurch kann die Person, die vorwiegend das Geld verdient (in den meisten Fällen ist das der Mann), Macht und Kontrolle ausüben und der andere Elternteil wird unter Druck gesetzt.

Auf der gesellschaftlichen Ebene hängt ökonomische Gewalt mit der beruflichen Benachteiligung von Frauen sowie der ungleichen Verteilung von bezahlter Berufstätigkeit und unbezahlter Sorgearbeit (die überwiegend von Frauen geleistet wird) zusammen. Diese Faktoren können ein Machtungleichgewicht verursachen, das Konflikte und gewalttätige Eskalationen fördert.

Diese Form der Gewalt, die nicht von einer Einzelperson ausgeht, sondern sich in ungleichen Machtverhältnissen in der Gesellschaft ausdrückt, wird vielerorts strukturelle Gewalt genannt. Üblicherweise sind vor allem Frauen, alte Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund (Rassismus), armutsgefährdete oder in Armut lebende Menschen, homosexuelle Menschen bzw. Paare sowie Menschen mit Behinderungen von Diskriminierung und struktureller Gewalt betroffen. Diese Personengruppen können aufgrund ihrer strukturellen Benachteiligung oftmals nicht so am gesellschaftlichen Leben teilhaben wie sie das gerne würden.

Kinder aus Familien, die aus Ländern kommen, wo weder Frauen- noch Kinderrechte umgesetzt werden und wo es kein Gewaltverbot in der Erziehung gibt, weisen ein erhöhtes Risiko für das Erleben von Gewalt auf. Zusätzlich sind viele Menschen im Migrationskontext durch Kriegs-, Flucht- und Fremdheitserfahrungen sehr belastet bis traumatisiert. Innerhalb geschlossener Communitys wie z. B. Sekten besteht ein hohes Risiko für Gewalt. Grundsätzlich ist Gewalt nicht migrations-, kultur- oder religionsspezifisch und äußert sich in allen bisher aufgezählten Formen.

Was im Migrationskontext oft speziell hinzukommt, sind kulturspezifische Aspekte wie eine kollektive Denkweise (Harmonie in der Gruppe/im Kollektiv ist wichtiger als das Individuum). Eine starke Orientierung an der Familie und traditionelle bzw. schambasierte Werte in Bezug auf Geschlechterrollen und (vor allem weibliche) Sexualität erhöhen das Gewaltrisiko, das auf besonders körperverletzende Weise bei der Genitalverstümmelung weiter tradiert wird. In patriarchalischen Familienstrukturen hängt die „Ehre“ der Männer vom „richtigen“ Verhalten der Mädchen und Frauen in der Familie ab.

Daher sind die Täter nicht nur vorrangig Beziehungspartner, sondern meist männliche Angehörige der Familie wie Väter, Brüder, Onkel oder Cousins. Es gibt auch Täterinnen: Häufig sind mehrere Mitglieder einer Familie – auch Frauen – in die Planung und Ausführung der Gewalt im Namen der Ehre miteinbezogen. Wollen sich Betroffene wehren, müssen sie sich meist gegen die gesamte Familie stellen. Betroffene Kinder und Jugendliche unterliegen meist einem enormen Druck zur Verschwiegenheit, um soziale Sanktionen und Ausgrenzungen zu vermeiden, und Schamgefühlen, da sie ihrer Familie „Schande“ gebracht haben (siehe Gewalt im Namen der Ehre erkennen, Broschüre "Stopp! Gegen Gewalt an Frauen und Mädchen"​​​​​​​ des ÖIF, 2022 und Broschüre "Gewalt gegen Frauen" (Hilfsangebote in Österreich)​​​​​​​ des ÖIF, 2022 ).

In den 1990er Jahren drangen weltweit schwerwiegende Gewaltvorfälle in öffentlichen und religiösen Einrichtungen, die mit der Betreuung und Erziehung von Kindern beauftragt waren, an die Oberfläche und ins öffentliche Bewusstsein. Auch in schulischen und außerschulischen Institutionen (Internaten, Schülerwohnheimen, WGs usw.) gab und gibt es solche Vorfälle, in denen das Personal Gewalt und Machtmissbrauch an Schülerinnen und Schülern ausübt oder durch fehlende Sensibilität und mangelhafte Aufsicht Gewalt unter Kindern und Jugendlichen nicht erkennt und beendet.

Diese Form der körperlichen, sexuellen und psychischen Gewalt an einem Kind, die durch eine erwachsene Autoritätsperson in einem institutionellen Setting verübt wird, wird als institutionelle Gewalt bezeichnet. Die Häufigkeit von institutioneller Gewalt scheint über verschiedene Länder, Institutionen und Personengruppen hinweg relativ hoch zu sein (Witt et al., 2019). Als besonders problematische Charakteristika gelten der unangemessene Macht- und Autoritätsmissbrauch seitens der Täterinnen und Täter, die eigentlich für das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen verantwortlich sind, sowie die oftmals systematische und multiple Ausübung von Gewalt. Eine Form der institutionellen Gewalt besteht darin, dass Kinder dazu angehalten werden, andere Kinder durch ritualisierte Handlungen zu demütigen und zu verletzen („Kaposystem“). Auch das Tolerieren und Nicht-Beenden von Übergriffen und Demütigungs- und Gewalthandlungen unter Kindern bzw. Jugendlichen, die eigentlich in Institutionen besonderen Schutz erhalten sollten, gilt als eine Form der institutionellen Gewalt. Betroffene sind oft Mehrfachtraumatisierungen ausgesetzt und leiden in der Folge an erheblichen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit und der Funktionsfähigkeit (siehe Lueger-Schuster, 2018).

Gemeinsam (weiter-)entwickelte Kinderschutzkonzepte und umfassende Kinderschutzstrategien in Schulen schaffen Rahmenbedingungen, in denen das Kindeswohl oberste Priorität hat und Schülerinnen und Schüler bestmöglich vor jeder Art von Gewalt geschützt werden.

Bei Übergriffen und Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen – wenn Kinder und Jugendliche Gewalt gegen Gleichaltrige oder Jüngere ausüben – spricht man von Peer-Gewalt. Einzelne Konfliktsituationen und Verhaltensweisen, die der persönlichen Entwicklung dienen – z. B. Streiten, Raufen, gleichberechtigte „Doktorspiele“ – sind davon abzugrenzen. Für diese Abgrenzung ist wichtig, dass das Verhalten im gegenseitigen Einverständnis stattfindet (d. h. es kann jederzeit von allen Beteiligten beendet werden) und keine Machtposition besteht (kein Kind ist dem/den anderen überlegen).

Gewalt unter Kindern und Jugendlichen findet in unterschiedlichen Kontexten statt: zu Hause (z. B. durch Geschwister), in der Schule, im Freizeitbereich und im digitalen Raum. Laut in Österreich erhobenen Daten (HBSC-Studie 2018, siehe Broschüre des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) waren im Jahr 2018 8 % der Schülerinnen und Schüler Opfer von Mobbing in der Schule. In einer Studie aus dem Jahr 2014 gaben 20-25 % der befragten Kinder und Jugendlichen an, Peer-Gewalt (als betroffene oder ausübende Person oder beides) im schulischen Kontext erlebt zu haben (Juvonen & Graham, 2014).  Dabei kann Peer-Gewalt alle bisher erwähnten Formen (außer Vernachlässigung) annehmen – es werden insbesondere körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt sowie Beziehungsgewalt (die soziale Ausgrenzung aus Gruppen) und Mobbing unterschieden. Psychische Peer-Gewalt, die oft mit dem Aussehen, der Sexualität und sozialen Akzeptanz im Zusammenhang steht, gilt als besonders gefährlich.

Mobbing2 ist eine spezielle Form der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, bei der sich ein oder mehrere Kind/er über einen längeren Zeitraum wiederholt und systematisch aggressiv bzw. gewalttätig gegenüber einem anderen Kind oder einer Gruppe von Kindern verhalten. Dabei besteht eine Schädigungsabsicht seitens der Täterinnen und Täter, ein Machtungleichgewicht (z. B. physisch und/oder psychisch) zu Ungunsten der Betroffenen sowie ein Gefühl der Hilflosigkeit seitens der Betroffenen. Betroffene werden durch die Handlungen isoliert, Mobbing kann dabei alle Formen der Gewalt umfassen.

Sexualisierte Peer-Gewalt nimmt oft andere Dynamiken an als bei erwachsenen Täterinnen und Tätern. Sexuelle Kommentare, Übergriffe und Grenzverletzungen bis hin zu massiver sexualisierter Gewalt wie Date Rape (ungewollte sexuelle Handlungen durch eine bekannte Person im Zusammenhang mit einer ansonsten einvernehmlich eingegangenen Verabredung) finden oft im Freundeskreis, durch Partnerinnen und Partner sowie in anderen Gruppen (z. B. im schulischen Kontext) und im digitalen Raum statt. Entgrenzte Explorationsspiele, „blödes Anmachen“, ungewollte Berührungen oder durch Überredung erzwungene sexuelle Handlungen von Gleichaltrigen gehören für viele Heranwachsende zum Alltag. Laut Statistik Austria waren von allen in Österreich im Jahr 2019 Verurteilten wegen Straftaten gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung (StGB, § 201-220b) fast 6 % Jugendliche (14–17 J.), beim Delikt Vergewaltigung gehörten 10 % der Verurteilten dieser Altersgruppe an. Gemäß einem Bericht aus Deutschland (Allroggen et al., 2011) sind Heranwachsende insbesondere bei Sexualdelikten, die im Gruppenkontext stattfinden, überrepräsentiert, dort machen Tatverdächtige unter 21 Jahren bis zu 60 % aus.

Relevante strafrechtliche Tatbestände (gemäß StGB), die hier zur Anwendung kommen könnten

Körperverletzung, schwere Körperverletzung (§§ 83, 84), Nötigung (§ 105), gefährliche Drohung (§ 107), Fortdauernde Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems – Cybermobbing bzw. Hass im Netz (§ 107c), Raub (§ 142), Vergewaltigung (§ 201), sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person (§ 205), Pornographische Darstellungen Minderjähriger (§ 207a), sexuelle Belästigung (§ 218)

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